Wir sind spontan?!
Entscheidungen fallen im Kopf, schon bevor wir bewusst nachdenken - das ist eines der Ergebnisse eines interdisziplinären Arbeitskreises am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Der Abwägungsprozess ist also häufig reine Illusion. Ein Ergebnis, das unsere Vorstellung von "vernünftigem Handeln" und "freien Entscheidungen" ganz schön herausfordert.
Neue Erkenntnisse der Entscheidungsforschung
Der mathematische Schwerpunkt der Entscheidungsforschung befasst sich mit den einfachen Regeln, nach denen unsere Entscheidungsprozesse funktionieren. Die Ergebnisse sind auffallend konkret und lauten etwa: Bevor man sich für einen Lebenspartner entscheidet, prüft man im Durchschnitt zwölf Personen, die für diese Rolle in Frage kämen. Oder: Wer weniger über Aktien weiß, findet die erfolgreichere Anlagestrategie. Das ist wirklich Forschung, die den Alltag durchleuchtet, denn Entscheidungen muss jeder ständig treffen. Doch was passiert eigentlich im Kopf, wenn wir Entscheidungen treffen müssen?
Was Gottfried Wilhelm Leibnitz, Philosoph des 18. Jahrhunderts, sich unter Entscheidungen vorstellte, prägt unser Denken bis heute. Seine Vision war ein universelles Verstandeswerkzeug, das alle Entscheidungsprobleme knackt. Am Beispiel Banküberfall lässt sich das Modell verdeutlichen: Vor der Handlung werden alle Faktoren sorgfältig abgewogen. Dabei tun sich immer neue Werthorizonte auf. Der ideale Entscheider wirft alles in die Waagschale - Chancen und Risiken. Die Entscheidung ist dann wie eine komplizierte Berechnung; am Ende steht eindeutig fest, welche Handlung am besten in die Wertkaskade passt. Aber wehe, wenn Emotionen ins Spiel kommen. Denn dann werden unsere Bewertungsmaßstäbe rätselhaft. Das rationale Entscheidungsinstrument passt nicht mehr und Emotionen machen den Verstand blind. Noch bedrohlicher für das Entscheidungskalkül aber sind Wissensdefizite: Je weniger man weiß, desto größer die Gefahr, eine falsche Entscheidung zu treffen. Der ideale Entscheider ist also der, der alles weiß. Doch perfekte Entscheidungen können wir Menschen gar nicht treffen, denn dafür sind wir viel zu beschränkt.
Viele Menschen ignorieren ihr Unwissen einfach und sind aufgrund dieser Strategie in der Lage, sogar an der Börse Erfolg zu haben. Der Beruf des Börsenbrokers ist ein anspruchsvoller Job: Zeit ist Geld und Entscheidungen fallen im Sekundentakt. Und auch wer sich auskennt, muss mit dem Risiko leben, sich falsch zu entscheiden. Im März dieses Jahres ging der deutsche Aktienindex den Bach runter. Aber ein deutsches Aktienpaket erzielte trotzdem 2,5 Prozent Gewinn: Max-Planck-Wissenschaftler hatten es für ein Experiment, das sie gemeinsam mit der Zeitschrift Capital durchführten, aufgelegt. Sie fragten Menschen auf der Straße, welche Aktienwerte sie kennen. Aus den meistgenannten schnürten sie ein Paket und verfolgten fünf Wochen lang dessen Wertentwicklung an der Börse. Diese populären Aktien entwickelten sich besser als das Aktienpaket, das die Capital-Experten aufgelegt hatten. Das Motto "Wähle das Bekannte" ist also auch auf dem Aktienmarkt eine erfolgreiche Strategie. Solchen "Entscheidungsheuristiken" ist man im Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung auf der Spur: Hier forscht man nicht im Elfenbeinturm, denn es geht um gewöhnliche Entscheidungsprobleme und um die Werkzeuge unseres Verstandes, mit denen wir Menschen diese Probleme lösen. An den universellen Dietrich, mit dem man alle Entscheidungssituationen knacken kann, glaubt hier niemand. Doch die Universallösung war im Prinzip Leibniz Traum. Er wollte den großen, gewaltigen Algorithmus finden, der alles abdeckt.
Aber was geht im Kopf vor, wenn wir uns entscheiden? Und wann zum Beispiel hören wir auf, abzuwägen und legen uns auf eine Alternative fest? Verhaltensforscher fanden am Beispiel der Partnerwahl heraus, dass wir nur eine kleine Zahl möglicher Partner näher ins Visier nehmen, bevor wir uns auf "die eine" oder "den einen" festlegen. Sich zu verlieben kann ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die Person, die man gefunden hat, besser ist als die, die man zuvor unter die Lupe genommen hat. Auch sich zu verlieben ist also ein Entscheidungswerkzeug und somit ein Ausweg aus dem Abwägungsprozess. Die provozierende Schlussfolgerung daraus lautet, dass es der Entscheidung manchmal gut tut, wenige Informationen einzubeziehen. Wie diese wenigen Informationen aussehen müssen, damit wir sie verstehen können, ist ein zweiter Forschungsschwerpunkt im Team um Gerd Gigerenzer. Die Berliner Forscher wollen den Menschen helfen, Wege durch das Informationschaos zu finden. Sie untersuchen, was ein Mensch wirklich braucht, um sich gut zu entscheiden. Wann leuchten uns Informationen ein? Wann verwirren sie uns? Als Modell dient den Wissenschaftlern die Erlebniswelt unserer Vorfahren. Denn die kannten noch keine abstrakten Prozentzahlen, nur echte Häufigkeiten. Ökologische Rationalität heißt das Stichwort, es geht um die natürlichen Ursprungsgründe unserer Intelligenz. Hat unsere Entscheidungskraft denn seit der Steinzeit keine Fortschritte gemacht? Trotz der Aufklärung? Wozu brauchen wir Experten, wenn sie Chancen und Risiken doch nicht besser einschätzen können als die Menschen auf der Straße? Und schließlich: Wozu noch lange nachdenken, wenn gute Entscheidungen ohnehin schneller sind als unser Verstand?
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